Sonntag, 13. Mai 2012

TRAUM


Als hätte mir jemand ins Kreuz getreten. Etwa einen Fuß breit unterhalb der Schulterblätter. Beeinträchtig so ziemlich die komplette Statik vom Kerl. Vom Entspanntheitsfaktor wohl eher so, als würde mir jemand eine geladene Schrotflinte mit offensichtlich unfreundlicher Absicht genau in die oben versucht zu beschreibenden Stelle drücken.
Mit Gewalt.
Und Genuß.
Genuß für Ihn. Nicht für mich.
Heute morgen hab ich kurz vor dem Aufwachen geträumt.
Oder zwischen dem Aufwachen und wieder Einschlafen und Wecker eine halbe Stunde weiter stellen und wieder Aufwachen.
Ich war auf der Flucht und habe jemanden verfolgt. Oder umgekehrt? Innerhalb eines Gebäudes. So ein Stahl-Glas was-sind-wir-doch-alle-so-wichtig Gebäude. Und irgendwie war auch viel weiß da. Marmor? Egal.
Jedenfalls Rolltreppen zum schwindelig werden. So als hätte Groß-Goliath mit einem Dutzend unterschiedlich langer Rolltreppen Mikado gespielt. Unter-, neben, übereinander, zwischendrin auch noch und darüber hinweg.
Und ich muß dringend eine erwischen, sonst erwischen sie mich. Und sie entwischen mir. Oder so.
Ich erwische jedenfalls offensichtlich die längste. Lang und schmal und hoch und aufwärts geht’s.
Und fieserweise wird das Ding immer steiler. Als wollte diese blöde Fahrtreppe sich mit zunehmender Höhe in einen Fahrstuhl verwandeln, bewegt sich alles langsam aber merklich in die Vertikale. Der Handlauf läuft jetzt fast senkrecht. Aber nicht der Handlauf macht mir Sorge. Die Stufen werden auch immer steiler und schmaler. Ich bebe vor Angst und konzentriere mich auf den Blick gradeaus. Nur kurz nach unten gelinst und alle erdenklichen Tode gestorben. Schlechte Idee, nach unten schau'n.
Nach oben aber durchaus auch ebenso. Den Kopf muß ich dafür ziemlich in den Nacken legen und es geht noch verdammt weit steil nach oben. Irgendwie in Richtung Looping. Blöde Richtung. Also Gradeaus. Am besten den Handlauf im Blick.
Schau gradeaus.
Halt den Handlauf. Und nicht Klammern. Ich kann mich nicht erinner einen bescheuerten Rolltreppenhandlauf jemals so intensiv angesehen zu haben. So viele unsichbare Fingerabdrücke wie eine eifrige Hafendirne und ebensoviele unsichtbare Viren, Bakterien und was einem das Leben sonst noch so lebenswert macht.
Dieser kack schwarze Gummiderivat-Handhalter braucht auch noch sensible Behandlung, sonst bleibt er stehen und ... und irgendwas blödes passiert dann. Keine Ahnung. Das steht auch nicht drauf sondern das weis ich irgendwie. Oder ich drücke mal kurz zu fest und die blöde Apparatur wird langsamer.
Also nur mit zwei Fingern festhalten. Der Daumen darf vielleicht auch ab und zu noch mitspielen aber nicht zu fest drücken. Sonst geht das hier echt in die Hose.
So jedenfalls meine feste Überzeugung, mein intuitives Wissen.
Und irgendwie so, quasi mit den Zehenspitzen auf einer Rolltreppenstufenkante, fixiert mit drei Fingern an einem Handlauf reise ich nach oben. Während die bescheuerte Vertikaltreppe selbstverständlich auch noch ihre Geschwindigkeit in Richtung noch schneller modifiziert.
Aber ich habe das unbestimmte Gefühl, irgendjemaden abgehängt zu haben oder (oder und) jemandem wichtigen näher gekommen zu sein.
Und dann bin ich oben.
Und da komme ich in ... irgendwas ... was wie ein Dachgarten aussieht. Nur ziemlich immens. Von der Größe her gesehen echt beeindruckend. Wie man sich als Minigolfer so einen Golfplatz für die Großen vorstellt. Und rundherum die Fangnetze. Damit die Schmetterlinge nicht abhauen. Und irgendwie auch ein Dach drüber. Aber schön. Hügelige Grasflächen. Bachläufe, Hecken, Bäume. Natürlich, auch wenn menschliche Einflußnahme unverkennbar ist. So in Richtung „naturnaher Garten von berufstätigem akadem. Ehepaar mit nicht grade ärmlichen Vorfahren vom Lande“.
Und da an einem Hang, der aussieht als wäre er grade von einem Hochwasser freigespült worden sitzt ein Typ.
Offenbar der, den ich suche? Naja. Jedenfalls ziemlich genau die Art von von Typ die ich vielleicht hier such aber eigentlich überhaupt nicht brauche. Südländisch dunkel, min. 1,80, braune Augen, sportlich, schwarze Haare. Die perfekte Konkurrenz zum Mißerfolg unter allen Sehenden wenn man 1,75, dicklich, picklich, bebrillt und straßenköterblond in der Welt weilt und eh' grad' schon Minderwertigkeitsgefühle genug hat. Nett ist er selbstverständlich auch noch. Und einfühlsam und hat wohl auch noch auf mich gewartet. Als hätte mir nicht garde diese blöde Rolltreppe schon den Tag versaut.
Aber ich setze mich neben diesen Typen an den Hang. Und aus dieser Hangfläche oder dem Abbruch kam langsam eine Flasche zum Vorschein. Eine Flasche aus Weißglas, leer, irgendwie altbacken oder antik oder zumindest nicht gebräuchlich. Und vor allem mit einer Hand daran. Einer menschlichen. Bräunlich wie die Dreckfläche, also der umgebende Erdboden. Aber doch verglichen mit ihrer Herkunft unerwartet sauber. Und ein Arm hängt daran an der Hand. Eine Jacken- und Hemdstoff- bekleideter Arm. Mit nem Typen dran. Einem zu dem Latin-Lover weiteren in diesem Dachgarten. Dicklich. Straßenköterblond. Irgendwie so meine Größe. Irgendwie auch gar nicht mal unerwartet oder ungewöhnlich, wie er da aus der Scholle bricht. Eher so: ach, da isser ja. 
Und jetzt nix wie weg.
Boah Alter, das halt ich nicht aus.“ sag ich freundlich und setz mich von ihm weg. „Du stinkst wie Sau.“
Ja ich weis. Macht nix.“

Und dann wach´ ich endgültig auf.


.

Gesessen

Gesessen
Hast du schon mal vorn vor 25 meditierenden Leuten gehockt?
Im Schneidersitz?
Mit der Glocke gebimmelt wenn es anfängt und noch mehr gebimmelt zum Ende?
Und zwischendrin gesessen?
35 min?
Fünfunddreißig Minuten?
Hast du?
Hast du überhaupt schon mal 35 minuten am Stück gesessen?
Ohne Bewegung und große Gewichtsverlagerung? Dann tu das mal.
Und dann setz dich dann mal vor andere trainierte 25 Leute.
Und dann lass uns dringend mal austauschen, denn das war für mich und grade letztens noch ein ziemlich knuffiges Erlebnis.
Mann, mann mann!
Und Frau.
Die Kerle rechts hinter mir. Die Frauen links schräg hinter mir.
Vor mir Kerzchen und Röschen auf den Podestchen und Klingelchen vor mir auf dem Boden. Und natürlich meine Armbanduhr, aber mit der hab ich noch gesondert etwas zu klären.
Von wegen Anfangen um sieben und dann 35 Minuten.
Zeit ist relativ.
Selbst für Ingenieure.
Das wirklich bemerkenswerte war aber die Wahrnehmung. Als erster in der Reihe und Gesicht nach vorn. Der Raum erst noch leer, füllt sich langsam mit den Kolleginnen und Kollegen.
Den Einsitzenden.
Und vorne dran nimmt man das wahr. Ich spürte, wer kam und was er oder sie mitbrachte. Diejenigen, die ich länger oder besser kenne, konnte ich fühlen und „sehen“. Mimik, Gestik, das war spürbar und ich wußte, wer sich wo im Raum verteilte. Und die Bewegungen und Geräusche waren spürbar. Viel intensiver als wenn ich mich auf das Zuschauen konzentriere.  Konzentrieren muss ich mich aber darauf, pünklich anzufangen. Die Jungs und Mädels warten auf mein Gebimmel. Voher spüren die wahrscheinlich nix. Nix mit Kontempla- und Meditation, wenn ich hier den Einsatz verschlafe und erst beim Frühstück wieder zu mir komme.
Ab zehn vor Sieben war ich dann überzeugt, dass wir immer um fünf vor Sieben beginnen. Noch fünf Minuten und dann, auf die Sekunde.
„Wir werden jetzt für fünfundreißig Minuten sitzen. Die Glocke klingt ein mal zu Beginn und drei mal am Ende.“
Bing!
Ausklingen lassen.
Vorsichtig ablegen.
Respektvoll.
Andächtig.
...
„Scheiße!“

 „Oh Mann, was für eine Scheiße war das denn?“ Wir beginnen gar nicht immer "um fünf vor Sieben“.
Wir beginnen immer um SIEBEN.
Na prächtig. "Versiebt, versaut, vermiest. Du Depp." "Oh Mann was denn jetzt?" Und vor allem, was denn JETZT? Um sieben noch mal klingeln? "Kleiner Scherz. Wollte mal sehen, ob ihr aufpasst, hahaha ....“.
Heulend raus laufen geht nicht mehr. Hab´ die Beine schon verknotet. Bis ich die wieder auseinander habe, ist's eh halb acht.
Ok ruhig. Vielleicht hat mir ja grade ein helles Prinzip auf die Fontanelle geklopft und mir den wirklich richtigen Zeitpunkt gewiesen. Ha!
Ich bin gebenedeit unter den Weibern.
Ich weiß, was die Uhr geschlagen hat.
Lass die ganzen anderen Pappnasen doch nur zu spät kommen. Ich war alleweil schon da und hab gebimmelt. Und wer zu spät kommt, der verpasst die Landung der Helligkeiten. Hach bin ich heute wieder nichtlinear. Ich bin der Zeitmacher, yeah!
„Platz!“. „Aus!“
Respekt! Aufmerksamkeit! Beharrlichkeit! Verbundenheit! Feinfühligkeit! Geborgenheit! Erkenntnis! So geht’s. Wir sitzen jetzt. Und ich sitze vor. Und 35 Minuten sind angesagt. Egal ob 5 Minuten vor oder nach irgendwas. Und inzwischen sind alle da. Der Raum ist geschlossen. Fühlbar wie ein Gallertblock. Wie in Agar-Agar gesetzt. Und die Tür geht noch mal auf. Ok. Auch die Leute nehmen wir noch mit. Rein. Dahinter wieder zu.
Geht. Passt. Und langsam kommt der Raum hinter mir zur Ruhe. Das Atmen wir leiser. Das Atmen wird ruhiger und entspannter. Das Rascheln hört auf. Wir sitzen.
Meine Damen und Herren. Nehmen Sie bitte KEINE entspannte Sitzhaltung ein. Wir sind gestartet in ein gemeisames Experiment, bei dem wir um die gemeinsame Erfahrung der individuellen Bedürfnisse kreisen.
Wir besuchen den Kreissaal persönlicher Entwicklungen der Gemeinschaft.
Hier ist das Sitzen nicht peinlich und nur die Pein des Sitzens eigentlich.
Ich spüre die Männer hinter mir. Von den Frauen wie durch eine Membran getrennt. Eine semipermeable Scheibe. Aber was genau trennt sich da? Hinter mir die Männer. Wow. Das ist gut. Da gibt’s Rückhalt. Rotbraun-Burgunderfarben. Warm weich matschig schlammig. Männerwelten in dunkelbraunen, stinkenden Ledersofas wo die Viehischkeit mit Exclusivität entschuldigt wird. Viehisch. Nicht tierisch. Tierisch ist geil. Tierisch ist eine tolle Erfahrung. Viehisch ist das Überschreiten der Grenze. Aber anziehend. Fratzenahft umworben möchte ich nach rechts hinten mich fallen lassen. Vielleicht sogar politischer als mir in diesem Moment überhaupt klar wird. Speckig. Verschwitzt. Wohlig warm und Kraftvoll in der Hingabe zum Genuss. Dumpf vielleicht aber auch gewitzt, geschickt und sehr sehr verlockend. Jederzeit auch gewaltbereit. Willst du nicht mit mir fröhlich sein, so schlag ich dir die Fresse ein.
Das wäre angenehm. Wozu auch diese Disziplin wo mir die Beine schon längst so eingeschlafen sind, dass es schmerzt? Das ist doch mal Gefühlsarbeit. Ich fühle klar, wie mir die Beine einschlafen und möchte lieber neben den Beinen irgendeiner Klara aufwachen. Klar die Verbindung mit allem und jedem, aber warum nicht eher mit den Frauen und die Körperteile miteinander verbinden an denen es besonders Spaß macht? Klar Kontemplation, aber wer weiß schon so genau was das heißt, geschweige was das ist? Und hört sich doch auch schon so an wie Kopulation. Wo genau ist der Unterschied? ....
Dagegen die Frauen heller. Da geht Licht von aus. Irgendwas strahlt da. Heller als bei den Kerlen. Auch nicht so homogen. Weniger gut über einen Kamm zu scherern. zu verstehen schon mal gar nicht. Schöne Einbildung.
Aber die trennende Membram ist durchlöchert. Wie Acrylglas mit Zigarettenlöchern. Löcher in der Klarheit. Löcher in der Helligkeit. Licht nicht mehr weiß und hell sondern violetter. Dunkler. Passend zu den Schwarz- und Rottönen der Männerseite. Ein Austausch ist da. Ein Zusammenspiel. Zum Zweck auch einer Konfrontation. Aber nicht der Erkenntnis. Keine Ahnung, was da vor sich geht. Irgendwie eisblockig brilliantenhaft. Blinkt und glitzert aber wo kommt das her und wie behalte ich dabei mein Augenlicht? Auch noch bunt. In ähnlichen Farben wie die Männerwelt. So wie ich mich zum Zurücklehnen zu den Kerlen aufgefordert fühle, scheint sich hier die Möglichkeit des Anlehnens. Aber nur mit den beiden Alternative entweder zu erfrieren oder zu verbennen. Eigentlich ist das die wahre Brutalität. Brech mir doch die Arme. Beide. Und noch vier Finger an jeder Hand. Ich werde schreien und zetern und leiden. Aber nicht unbedingt zerbrechen. Das alles zerschneidenede helle lichte Blau und das dumpf zerbrechende rote Violett, das kann mich nachhaltig zerstören. Oder verstören.
Ich sitze jedenfalls immer noch.
Alle anderen auch.
Irgendwann muß ich versuchen wieder irgendwelche Körperteile zu bewegen. Die Arme vorzugsweise zu Beginn. Zum betätigen der Bimmel. 35 Minuten sind verstrichen. Nach 20 bis 25 Minuten hat mein Schmerzzentrum im Hirn bereits bemerkt, dass vorzugweise meine rechtes Bein grade dabei ist abzusterben. Eigentlich egal, ob ich mich danach umsetze oder nicht, die letzten Minuten werden dann wieder mal richtig zur Qual. Mit schlechtem Gewissen wegen der individuell zu verantwortenden Zeitverscheibung wird das nicht besser. Und die Aufregung vor dem finalen Gebimmel, der Uhrencheck, das tatsächliche Ende auch tatsächlich zu treffen. Nicht angenehm. Mistrauen gegen mich selbst und meine Absicht ist einem nötigen Selbstvertrauen offensichtlich entgegengesetzt.
Und da fängt es an, Spaß zu machen. Wenn da mal nicht grade ein echter Kampf tobt. Vorzugsweise Gut gegen Schlecht. Und auch noch in mir selbert. Wow!
Ja aber auch genau, wie gestern. Gestern gingen ja schon die finstren Mächte hier auf Beutefang. Die Räumlichkeiten hier bei dem Wochenendseminarslaboratorium kamen mir bislang nicht besonders vor. Bis gestern alles grau wurde. Die Jungs und Mädels sind abgerutscht. Die Linie war nicht mehr begrenzt und seitlich kamen ganz üble Einflüsse herein. Die Situation rutschte wie eine billige Waschmittelwerbung. Nur umgekehrt. Von strahlend in graugeschleiert. Da war noch nicht einmal irgend etwas Einschneidendes. Nichts, was eine echte allgemeine Meldung und Empfindung hervorgebracht hätte. Es war irgendwie der Unterschied von Verbundenheit zu Zusammensein. Keine Unterscheidung, die nicht ggf. noch geschickt wegdiskutiert werden könnte aber spürbar. Und es war viel und vielschichtig. Und vermutlich war ich es selbst.

Muß ich eigentlich immer wieder alles selber machen?
Scheiß Idee!